Mehr Power mit der Chance auf Sitzenbleiben!

Es zählt zu den besonders schwer wiegenden Fehlern der Hamburger Schulpolitik, dass mit dem Primarschul-Gesetz vom Oktober 2009 (das von den Hamburgern nur in Teilen mit dem Volksentscheid vom 18.7.2010 gestoppt werden konnte) die Möglichkeit des Sitzenbleibens in Hamburger Schulen abgeschafft wurde. Die damals von einer Grünen Schulsenatorin (Christa Goetsch) geführte Hamburger Schulbehörde folgte damit einem gesellschaftlichen Trend zur Kuschelpädagogik, die Kindern zu viel abnehmen möchte.

Denn natürlich scheint die Drohung, auf Grund fehlender Leistungsbereitschaft oder -fähigkeit aus dem sozialen Gefüge einer Schulklasse zu fallen, wenn man den schulischen Anforderungen nicht gerecht wird, für den betroffenen Schüler auf den ersten Blick schwer zu wiegen. Gleichzeitig schärft diese Möglichkeit aber auch den Sinn für Eigenverantwortung und wirkt für viele Schülerinnen und Schüler stark motivierend.

In Zahlen betrachtet, stellt das Sitzenbleiben kein Problem dar: Die rund 170.000 Wiederholer in Deutschland pro Jahr Sitzenbleiber stellen bezogen auf 11,4 Millionen Schülerinnen und Schüler gerade einmal eine Sitzenbleiberquote von nur 1,5 Prozent dar. Geradezu unanständig ist vor diesem Hintergrund das von politischer Seite gerne für die Abschaffung des Sitzenbleibens angeführte fiskalische Argument, Sitzenbleiben koste angeblich den Staat viel Geld: Denn das Wiederholen einer Jahrgangsstufe ist eine pädagogische Maßnahme, die den Staat im Regelfall überhaupt nichts oder nur wenig kostet. Die Schüler, die eine Klasse wiederholen, machen ja fast nie eine Teilung der nachfolgenden Klasse notwendig, sondern sind in der nachfolgenden Klasse meistens ganz einfach der 27. oder der 28. Schüler. Mehr Geld für Personal muss deshalb nicht ausgegeben werden.

Auch abgesehen von der motivierenden Wirkung auf die vielen Schülerinnen und Schüler, die nicht sitzenbleiben, eben weil sie sich spätestens im zweiten Halbjahr eben deswegen anstrengen, ist die Möglichkeit der Konsolidierung des eigenen Lernstandes und der eigenen Lernbereitschaft eine wertvolle pädagogische Maßnahme. Denn der Großteil der betroffenen Schülerinnen und Schüler hat in drei oder mehr Fächern eine Fünf. Schüler mit diesen Lernrückständen in die nächst höhere Jahrgangsstufe voranzuschieben und statt dessen mit zusätzlichen Nachmittags-"Förderkursen" zu überziehen, führt dazu, dass diese Schüler ihre Lerndefizite nicht ausgleichen können und nachhaltig Frustrationen hinterherlaufen. Die Praxis in Hamburg zeigt, dass dieses alternative Konzept der "individuellen Förderung" in den meisten Fällen nicht funktioniert: Zusätzliche Nachmittagsgruppen, die oft nur aus unstrukturierter Hausaufgaben-Hilfe in teils jahrgangsübergreifenden Gruppen bestehen, bringen die betroffenen Schüler, die schon mit dem normalen Vormittags- oder Ganztagsunterricht in mehreren Fächern auf einer Fünf (oder schlechter) stehen, nicht an den Lernstand ihrer im Unterricht weiter vorangehenden Mitschülerinnen und Mitschüler heran.

Dazu Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, im Interview (WELT v. 18.2.2013): "Man gaukelt den Kindern ein Leistungsvermögen vor, das sie nicht haben. Man schiebt sie wider besseres Wissen bis zur Abschlussprüfung. Für mich ist es humaner, einem 13-Jährigen zu sagen: Du wiederholst jetzt ein Jahr, weil es für dich eine Chance zu Konsolidierung ist. Das ist besser, als ihn bis zur Prüfung zur hieven und dann zu sagen: April, April, aber du bist einfach nicht leistungsstark genug."

Auch das von Anhängern der Kuschelpädagogik immer wieder angeführte Argument einer angeblichen Demütigung von Schülerinnen und Schülern, die eine Jahrgangsstufe wiederholen, verfängt nicht, sondern ist im Regelfall nur eine Projektion eigener Versagensängste der so argumentierenden Reformpädagogen: Die Realität in den Schulen belegt, dass die "Sitzenbleiber", die meistens etwas älter und oft etwas frecher ("cooler") als ihre neuen Mitschülerinnen und Mitschüler sind, fast immer sehr schnell akzeptierter Teil des neuen Klassengefüges sind, oft sehr schnell zu Klassensprechern gewählt und zu Leitfiguren werden – einer positiven Erfahrung, die ihnen in ihrer vorherigen Jahrgangstufe verwehrt blieb.

Auch im internationalen Vergleich ist die Möglichkeit des Sitzenbleibens als pädagogische Maßnahme Standard: Fastalle Schulsysteme in Europa kennen die Möglichkeit, eine Klasse zu wiederholen. Teilweise wiederholt ein Viertel der Schüler mindestens eine Jahrgangsstufe, und zwar vor allem in eingliedrigen (Gesamtschul-)Systemen. Hier ersetzt das Sitzenbleiben oftmals rein faktisch die Möglichkeit einer besseren Förderung in einem anderen Schulzweig eines gegliederten Schulsystems.

Aktuelle Zahlen zu Umschulungen aus den Gymnasien auf andere Schulformen veranschaulichen, dass die Zahl der Umschulungen seit der Abschaffung der Möglichkeit des Jahrgangswiederholens in Hamburg stark gestiegen ist. Der von den Befürwortern einer Abschaffung des Sitzenbleibens angestrebte Effekt des Vermeidens eines "unangenehmen" oder "stigmatisierenden" Sitzenbleibens wird also ad absurdum geführt: Statt eines bloßen Sitzenbleibens an derselben Schule droht jetzt vielen Schülerinnen und Schülern die Umschulung auf eine andere Schulform:

WWL-Info-Mail v. 4.6.2014: Umschulungen von Gymnasien: Zahlen sprechen für das Wiedereinführen des Jahrgangswiederholens ("Sitzenbleiben")

 

Eine Auswahl von Presseberichten und Interviews zum Thema finden Sie hier:

 

Deutsche Schüler wollen das Sitzenbleiben retten – WELT v. 6.3.2013

Streit ums Sitzenbleiben – NDR Online v. 1.3.2013

Scheitern tut gut – WELT v. 25.2.2013

Schule ohne Sitzenbleiben ist wie Bundesliga ohne Absteigen – WELT v. 25.2.2013

Klöckner: Schule ohne Sitzenbleiben wie Fußball ohne Absteiger – Rhein-Zeitung v. 25.2.2013

Harald Martenstein: Ich hab da mal 'ne Frage – ZEIT v. 24.2.2013

"Wir wollen, dass kein Kind verloren geht" (Interview Birgit Homburger) – DIE WELT v. 20.2.2013

Sitzenbleiben ist europäischer Standard - WELT v. 19.2.2013

Sitzenbleiben wird abgeschafft: Schulpolitik auf dem Weg ins Schlaraffenland - Wirtschafts-Woche v. 19.2.2013

Debatte über das Sitzenbleiben: Gleichmacherei und Illusionen – FAZ v. 18.2.2013

Warum das Sitzenbleiben in der Schule human ist (Interview Josef Kraus) – WELT v. 18.2.2013

Die Schule wird ein wettbewerbsfeindlicher Raum – WELT v. 18.2.2013

Streiterei über das Sitzenbleiben ist unnötig – Landeselternverband Bayerischer Realschulen v. 17.2.2013

Sitzenbleiben: Es braucht die Gefahr des ScheiternsSüddeutsche Zeitung v. 16.2.2013

Bundesländer streiten um die Ehrenrundetagesschau.de v. 16.2.2013