Individualisiertes Lernen?

Hamburgs Schulsenator Ties Rabe setzt für die Stadtteilschulen entgegen der KMK-Vorgaben nicht mehr auf effiziente Förderung der Schülerinnen und Schüler in äußerer Differenzierung, d. h. in Klassen oder Kursen, in denen lern- und leistungsgerecht unterrichtet wird, sondern auf „individualisiertes Lernen“, ein für moderne Reformpädagogen gleichsam magisches Zauberwort, das nach dem Motto: „Lehren ist Lernbehinderung“ den Lehrer auf einen Motivationstrainer, bzw. „Lerncoach“ reduziert und den Anhängern, die um dieses moderne goldene Kalb tanzen, alle organisatorischen und planerischen Schwächen der Schulbürokratie nichtig erscheinen lässt. In der Reformpädagogik der 70er-Jahre im Zusammenhang mit der damals modernen „antiautoritären Erziehung“ geboren und gescheitert, wurde die Vorstellung des „individualisierten Lernens“ in Hamburg von seinen Anhängern in der Schulbehörde zuletzt nach dem Amtsantritt von Schulsenatorin a.D. Christa Goetsch wieder aus den Archiven geholt – das Ziel war klar: die erkennbaren pädagogischen, planerischen und organisatorischen Schwächen einer 6-jährigen „Primarschule“ sollten mit der Verkündung des „individualisierten Lernens“ als „neuer Lernkultur“ rhetorisch aus dem Weg geräumt werden, die Schulen müssten sich eben nur „auf den Weg machen“!

Senatoren kommen und gehen, Behörden bleiben bestehen. Der Schulausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft wird sich vor diesem Hintergrund in seiner nächsten Sitzung am Freitag, den 15. Februar 2013, mit dem „individualisierten Lernen“ befassen. Grund genug, sich ein wenig näher mit dem Thema zu beschäftigen:

Die wohl eindringlichste Zusammenfassung der Perfidität des Konzepts des „individualisierten Lernens“ liefert der Hamburger Pädagoge Dr. Rainer von Kügelgen in:

Kügelgen, Dr. Rainer von in: hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 1-2/2012: Individualisiertes Lernen – Hilflos gegenüber dem Machtapparat

Auszug:

"Ja, wie ein Dukaten-Scheißesel soll IL [die Abkürzung „IL“ ist nicht zu verwechseln mit dem „LI“, d. h. dem Landesinstitut für Lehrerbildung, und steht für „individualisiertes Lernen“; Anm. WWL] sogar die flächendeckende Inklusion mit ihren zahlreichen Herausforderungen und ungelösten Problemen zum Billig- und die prinzipielle Binnendifferenzierung zum Nulltarif ermöglichen. …

IL setzt die steigende Ungerechtigkeit und soziale Differenzierung der Bundesrepublik auf bildungspolitischem Gebiet in ein pädagogisch-didaktisches Verfahren um. …

Für die Schüler bedeutet IL den Absturz ins Haifischbecken des Bildungsdarwinismus: Die mit den Startvorteilen werden auch diese Katastrophe überleben, eine Negativauswahl wird sogar von der zum Prinzip gemachten Rücksichtslosigkeit profitieren und die mit den Handicaps schließlich haben nun – ‚wissenschaftlich‘ nachgewiesen – noch viel mehr als immer schon selber schuld, dass sie in der Versenkung des eigenen Versagens verschwinden. IL lässt die Schwachen allein. …

IL ruft zum frontalen Angriff auf die soziale Qualität des Lehr-Lernprozesses. IL bedeutet Aushebelung und Lähmung der Kräfte des Von- und Miteinander-Lernens in der sozialen Gruppe. IL zerstört bzw. verhindert den Zusammenschluss einer Gruppe gleichen Interesses zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele und zur Abwehr gemeinsamer Bedrohungen. IL stellt den Vereinzelten hilflos der im Apparat etablierten strukturellen Macht gegenüber. …"

Lesenswert ist ferner der Kommentar des Berliner Pädagogen und ehemaligen Lehrers Rainer Werner, der herausarbeitet, dass die von manchen gepriesene „Individualisierung des Unterrichts“ nur eine Chimäre ist, weil zu einem vernünftigen Lernprozess neben einer guten Lehrkraft der intellektuelle Austausch aller Schülerinnen und Schüler gehört. Das „individualisierte Lernen“ ist deshalb auch eher eine Reaktion auf die Schwäche der Organisation von Schule in heterogenen Klassen und Lerngruppen, die es auf Grund der Leistungs- und Wissensschere innerhalb der Lerngruppe unmöglich machen,  ein konkretes Thema auf einem für alle gleichermaßen interessanten und bildungsfördernden Niveau zu diskutieren:

WELT v. 26.12.2012: Individuelles Lernen: Die Einheitsschule ist pädagogische Romantik

Es überrascht vor diesem Hintergrund auch niemanden, wenn eine aktuelle Bildungsstudie aus den USA dokumentiert, dass der rhetorisch von Reformpädagogen gerne martialisch als „Frontalunterricht“ verteufelte instruktive Unterricht mehr als „individualisierter“ Unterricht:

"Mehr zuhören, weniger diskutieren, üben statt ständig experimentieren – das erscheint nicht nur für die guten Schüler äußerst gewinnbringend, sondern auch für schwächere und vor allem jene aus eher benachteiligten Schichten."

FAZ v. 15.12.2012: Frontalunterricht macht klug

 

Weiterführende Informationen:

 

Individuelle Förderung: Der große Bluff – PROFIL, Heft 12/2013 (Gastbeitrag von Professor Dr. Klein, Goethe-Universität Frankfurt am Main)